Rekodierung: Wie Physisches zu Mentalem wird

Unser Gehirn ist in der Lage, physische Eigenschaften wie die Form eines Weinglases, die Temperatur eines Bechers oder die Haptik eines Handtuches in etwas Mentales zu übersetzen. Physisches wird in Mentales rekodiert. Die Fähigkeit zur Rekodierung ist spezifisch menschlich und erklärt, was Konsum eigentlich für uns Menschen ist. Wir regulieren mit Produkten und ihren physikalischen Eigenschaften mentale Dinge. Wir machen einen Pudding, um unser Kind zu trösten oder kaufen eine Schokolade, um uns zu verwöhnen. Wenn wir etwas Mentales erreichen wollen, dann wählen wir Produkte mit Eigenschaften, die dazu passen. Doch wie funktioniert diese Rekodierung genau, was steht dahinter?

Schauen wir uns das an einem einfachen Beispiel an, dem Wort „über“. Dieses kleine Wort basiert auf einer einfachen, physikalischen Erfahrung: Etwas steht über etwas anderem (s. Abbildung).

Wie würden wir diese einfache Szene beschreiben? Wir würden sagen, dass sich der Kreis über der Linie befindet. Das ist die basale, physische Erfahrung, die wir in dem Wort bzw. Konzept „über“ zusammenfassen. Linguisten sprechen hier von der sogenannten „Proto-Scene“, d. h. es handelt sich hier um die prototypische Szene, die dem Konzept „über“ zugrunde liegt.

Spannend ist nun, was wir Menschen über die Fähigkeit des Stirnhirns zur Rekodierung daraus machen. So sagen wir zum Beispiel:

  • Eine Firma übernimmt eine andere Firma
  • Sie hat Macht über ihn

Hier geht es also um Macht, Stärke und Kontrolle. Warum verwenden wir hier „über“ und nicht eine andere Präposition wie „unter“ oder „auf“? Weil wir die Erfahrung machen, dass der Stärkere meist über dem Schwächeren steht, zum Beispiel weil er größer ist oder am Ende eines Kampfes noch steht, während der Verlierer am Boden liegt. Aufgrund dieser Erfahrung liegt es nahe, diesen Zusammenhang mit dem Wort „über“ zu verbinden.

Wir verbinden das Wort „über“ aber nicht nur für Situationen, die mit Kontrolle und Macht zu tun haben. So sagen wir etwa: „Der Käufer hat über 1.000 € mehr geboten als der Verkäufer für sein Haus verlangte“. Was steht hier dahinter? Die Erfahrung, dass MEHR oft mit HÖHER korreliert. Wenn wir auf drei Pakete ein viertes Paket stellen, haben wir (a) mehr Pakete aber (b) auch einen höheren Turm. Da nun das Wort „über“ prototypisch für eine erhöhte Position, also für „HÖHER“, steht, liegt es nahe, das Wort auch für Dinge zu verwenden, bei denen es um „MEHR“ bzw. „MEHR ALS“ geht. Und genau das tun wir in unserer Sprache:

  • Er fand über vierzig Arten von Muscheln am Strand
  • John ist über 50 Jahre alt
  • Er fuhr über 40 km/h zu schnell

Bislang haben wir zwei semantische Ausdifferenzierungen des einfachen physischen Zusammenhangs, der „über“ kodiert“, betrachtet: (a) Kontrolle über etwas haben und (b) „mehr als“. Gibt es noch weitere Ausdifferenzierungen der physischen Erfahrung, dass etwas (z. B. ein Kreis) über etwas anderem steht? Linguisten haben herausgefunden, dass es im Englischen insgesamt 16 (!) semantische Cluster gibt, mit jeweils unterschiedlichen Ausdifferenzierungen des Wortes „über“. So sagen wir zum Beispiel, dass man eine „Deadline überschreiten“ kann. Was hier zugrunde liegt ist wiederum eine Ausdifferenzierung der basalen Erfahrung, die hinter „über“ steht. Wir sagen zum Beispiel: „die Katze springt über die Mauer“. Wir nutzen also die Tatsache, dass sich etwas über etwas anderes hinweg bewegen kann. Und genau das tun wir wenn wir eine Deadline überschreiten.

Diese einfachen Beispiele aus der Linguistik zeigen letztlich zwei zentrale Aspekte, wie wir Menschen Physikalisches mit Mentalem verbinden:

  1. Es gibt eine direkte Verbindung zwischen Physischem und Mentalem. Es ist nicht beliebig, für welche Zusammenhänge wir das Wort „über“ nutzen, sondern basiert auf der prototypischen Erfahrung, wenn etwas über etwas anderem steht. Alle Bedeutungen von über lassen sich auf diese basale physikalische Erfahrung zurückführen.
  2. Innerhalb dieser Leitplanken ist das menschliche Gehirn bzw. unsere Kultur extrem flexibel und ausdifferenziert. Schon für das einfache Wort „über“ haben Analysen 16 verschiedene semantische Ausdifferenzierungen ergeben (z. B. Kontrolle, Mehr als, Präferenzen, im Fokus stehen, Überdecken etc.).

Literatur-Tipp: Tyler, A. & Evans, V. (2007). The Semantics of English Prepositions: Spatial Scenes, Embodied Meaning, and Cognition. Cambridge University Press. Trotz des speziellen Titels: ein sehr empfehlenswertes Buch. Eine detaillierte Analyse der Rekodierung bei der Sprache. Zeigt sehr schön wie unser Körper Leitplanken auch für Sprache vorgibt, dabei aber innerhalb dieser Leitplanken sehr viel Differenzierung und Überformung im mentalen, sprachlichen Bereich existiert.

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